Uwe Krebs, Universität Erlangen-Nürnberg
„Rochows Kampf gegen den Aberglauben: Zur Aktualität einiger preußischer Tugenden.“
(Festvortrag vom 3.Juni 2012 anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Schulmuseums Reckahn, Brandenburg)
Mit dem Aberglauben verhält es sich wie mit dem Unkraut im Garten.
Beides wächst immer wieder nach. Das gibt mir die Gelegenheit, einen Bogen zu spannen, vom 18. in das 21. Jahrhundert; von Friedrich Eberhard von Rochow zu unserer Gegenwart.
Hier in Reckahn hat Rochow einen wahren Kreuzzug gegen den Aberglauben begonnen (Krebs 1995[1]), doch seine Wirkung ging weit über Brandenburg, über Preußen und über Deutschland hinaus. Sie erstreckte sich über viele Staaten Europas. Der Aberglaube ist aber auch heute noch längst nicht besiegt.
Berufsbedingt habe ich mich viel mit den heute untergehenden „Traditionalen Kulturen“, sog. Stammesgesellschaften, wie z.B. Massai oder Eskimos befasst. Das magische Denken in diesen Kulturen ist zwar von Kultur zu Kultur unterschiedlich, es erfasst aber fast den gesamten Alltag, nicht nur Jenseitsvorstellungen. Und es lähmt das freie Denken ungemein.
Das hat mich oft an die Verhältnisse bei uns in Europa zu Rochows Zeit erinnert. Aber auch heute hält sich hartnäckig Aberglauben. In manchen Kulturen nur noch in Nischen, in anderen fast flächendeckend.
Nur zwei Beispiele: Nach islamischer Rechtssprechung in manchen Gebieten kann auch heute noch eine Frau bis zu 4 Jahren schwanger sein, bevor die Geburt einsetzt. Dieser Aberglaube ist sicher praktisch, für die Frauen bei kriegerischen Stammeskulturen, wenn der Ehemann lange fort ist.
Im Christentum hat sich im Katholizismus bis heute die Teufelsaustreibung, der Exorzismus, als kirchlich zulässiges Verfahren gehalten. Die Fälle sind zwar selten geworden, aber nicht verboten.
Kurz: Wir haben allen Anlass, Rochow zu feiern.
Die preußischen Tugenden,
mit nüchterner Sachlichkeit,
unter Verwendung des eigenen Denkvermögens,
frei von Aberglauben,
also vernünftig und mit Fleiß an die Welt heranzutreten,
und dies eingebettet in eine staatstragende Haltung des übergroßen Teils der Bevölkerung, da diese sich sicher ist,
dass der Staat nicht nur nimmt, sondern auch gibt,
dies hat Rochow wie kein zweiter mit seinem Werk durchgesetzt.
Ich verkenne nicht, dass zu späterer Zeit einige altpreußische Tugenden zu Untugenden mutierten. Wehrhaftigkeit mutierte zu Militarismus und falsch verstandene Disziplin und Ordnung behinderten demokratische Entwicklungen. Aber: Fehlentwicklungen ändern nichts am zeitlosen Wert preußischer Tugenden für den Einzelnen und für den Staat.
Dass diese Gedenkfeier auf dem Original-Schauplatz , dem Schloss Reckahn, möglich ist, verdanken wir einigen wenigen weitsichtigen und mutigen, und nicht zuletzt geschichtsbewussten Menschen, die es mit zäher Beharrlichkeit geschafft haben, dass vor 20 Jahren das gesamte Ensemble aus Schule, Schloss und Park zu einem Museum werden konnte. Stellvertretend nenne ich nur die Namen Otto Günther Beckmann, Hanno Schmitt und Frank Tosch.
Nun fällt manchem beim Wort Museum nur „Staub und Langeweile“ ein. Hier auf Reckahn, wird nicht nur der weitläufige schöne Park, sondern auch die lange Reihe von Veranstaltungen und Projekten vom Gegenteil überzeugen: lebendige Wissensvermittlung für alle Altersgruppen an einem Ort von besonderer Atmosphäre. Ein Ansatz, für den sich Frau Siebrecht und ihre Mitarbeiterschaft unermüdlich einsetzen.
Doch jetzt wird es Zeit, näher auf den Mann und sein Wirken einzugehen, dem wir letztlich unser heutiges Zusammentreffen verdanken:
Ich möchte das in vier Schritten tun: Person, Werk, Wirkung, Schluss-folgerungen. Wer war Friedrich Eberhard von Rochow und was genau hat er getan?
Zunächst kurz zur Person: Hanno Schmitt hat ihn einmal treffend als „sanften Modernisierer“ (2001, S.11) bezeichnet. Doch bevor Rochow zu diesem sanften Modernisierer wurde, war er alles andere als ein Musterschüler oder Streber, eher ein Draufgänger, ein „Haudrauf“, der die Arrestzelle auch von innen kannte.
Als Sohn des preußischen Kriegsministers zur Zeit Friedrichs des Großen hat er vom 4.-16. Lebensjahr 11 Hauslehrer verschlissen. Er selbst meinte später: “Mein lebhafter Geist verseufzete die lernfähigsten Lebensjahre hinter lateinischen Autoren im dumpfen Zimmer.“(Schmitt & Tosch 2001, S. 13). Aber bereits als Kind kennzeichnete ihn seine von ihm selbst so genannte „Lesesucht“. Rochow war also ein Autodidakt, einer also, der sich selbst das meiste beibrachte. Übrigens waren es in der Wissenschaftsgeschichte oft Autodidakten, die neue Wege gingen.
Nach der Hauslehrerzeit besuchte Rochow ein Jahr die Ritterakademie um mit 17 Jahren ins Militär einzutreten, nahm an einer Schlacht teil, wurde verwundet. Als Leutnant erlitt er in einem Duell, das er selbst verschuldet hatte, so schwere Verwundungen, dass er lange Zeit für die Genesung brauchte.
Der seinerzeitige preußische König, Friedrich der Große, war aber der unrichtigen Auffassung, dass Rochow seine Genesung über Gebühr hinauszögerte (heute würden wir sagen: „blau machte“), sodass er ihn unehrenhaft entließ. Da war Rochow 24 Jahre alt und fast schon eine gescheiterte Existenz. Ein Glücksfall für ihn, dass er nun den zeitgenössisch berühmten Johann Fürchtegott Gellert persönlich kennen und schätzen lernt.
Gellert war ein sog. Aufklärungstheologe und Dichter. Die Auf-klärungstheologie war eine Richtung, die den Protestantismus durch Gedanken der Aufklärung kräftig entschlackte. Diese Freundschaft und die eigenen bitteren Erfahrungen haben Rochow wohl sehr verändert.
Bei Gellert lernt er auch seine spätere Ehefrau kennen. Er heiratet mit 25 Jahren und mit 26 überträgt ihm sein Vater fünf schuldenfreie Rittergüter, von denen Reckahn das bedeutendste ist.
Damit komme ich zum Wirken Rochows: Was hat er da von seinem Vater übernommen? In seinen Worten: „ Ich lebe unter Landleuten. Mich jammert des Volkes. Neben den Mühseligkeiten ihres Standes werden sie von der schweren Last ihrer Vorurteile gedrückt. Ihre Unwissenheit in den nötigsten Kenntnissen beraubt sie der Vorteile und Ersetzungen, welche die für alle Stände gnädige Vorsehung Gottes auch dem ihren gegönnt hat. Sie wissen weder das, was sie haben, gut zu nutzen, noch das, was sie nicht haben, froh zu entbehren. Sie sind weder mit Gott, noch mit der Obrigkeit zufrieden. … Daher ist ihre Religion meistenteils der verderbliche Fatalismus. Die Ursache dieser sämtlichen, den Staat in seinem wichtigsten Teil zerstörenden Übel liegt in der vernachlässigten Erziehung der ländlichen Jugend. Bringt man nichts in den Kopf, so kommt auch nichts ins Herz.“ (Rochow 1772, S. 1-3, Einleitung)
Was macht Rochow? Auf eigene Kosten erstellt er Schulgebäude, stellt Personen als Lehrkräfte ein und erprobt gewissermaßen von der Pike auf, durch Versuch und Irrtum, wie am Besten zu unterrichten ist und welche Themen zu vermitteln sind, wenn es dem Einzelnen und dem bäuerlichen Leben dienen soll.
Sicher sind seine schlechten Erinnerungen an seine eigene langweilige Schulzeit dabei von Einfluss. Heute wissen wir aus der Hirnforschung, wie richtig Rochows Ansatz ist. Denn die Beteiligung unbewusster, aber wirksamer Bereiche des Stammhirns am bewussten Lernakt des Großhirns ist für das Langzeitgedächtnis unverzichtbar. Das Stammhirn ist hier aber nur über emotionale Beteiligung erreichbar. Unbeteiligtes Auswendiglernen für die nächste Klassenarbeit, wie ich es auch bei meinen Söhnen beobachtete, ist „Lernbulimie“ und hat mit Bildung nicht zu tun. So schnell die Stoffmengen gelernt werden, so schnell werden sie vergessen. Ich bin optimistisch, dass sich dies - nach und nach - noch in einigen Kultusministerien herumspricht.
Es ist zum Verständnis des späteren Erfolges des Rochow’schen Werkes wichtig, festzuhalten, dass nicht am grünen Tisch verfügt wurde, wie und was zu lernen sei, sondern induktiv, also durch Erproben herausgefunden wurde, „Was“ und „Wie“ die Kinder am wirksamsten lernen und behalten. Bedenken Sie bitte, es gab für diese Landschule keinen Lehrplan, es gab keine Entwicklungspsychologie, keine Didaktik. Rochow und seine Lehrer starteten bei „Null“.
Wie war Rochows Ausgangssituation in Staat und Gesellschaft? Heute, über 250 Jahre später, fällt es uns schwer, richtig einzuschätzen, ob und wie revolutionär und System gefährdend Rochows Ansichten über die Bildbarkeit analphabetischer Bauern auf manche einflussreiche Vertreter des Adels seiner Zeit gewirkt haben muss. Daher ein paar Hinweise: Für einen Adeligen im aufklärerisch gesonnenen, gleichwohl absolutistischen Ständestaat Friedrichs des Großen klingt recht egalitär, was Rochow über den Verstand sagt: „Ich denke doch nicht (um nicht bei dieser Sache zu wiederholen, was andere schon vortrefflich gesagt haben -– vermutlich in Anspielung auf den berühmten Philosophen der Epoche der Aufklärung, Voltaire-) dass man den Verstand eines Bauernkindes und seine Seele für Dinge einer anderen Gattung hält, als den Verstand und die Seelen der Kinder höherer Stände?“ (ebd., Einleitung, S. 3)
Den nahe liegenden Einwand, gebildete Untertanen würden Unruhe und Unzufriedenheit mit sich bringen, bezeichnet er als „wichtigen Einwurf“ (ebd.) und versucht ihn auf folgende Weise zu entkräften: „Aber ist es denn der Einrichtung des Staates nicht nützlich, wenn der Bauer dumm bleibt, nicht schädlich, wenn er klug und verständig wird? Klug und verständig werden heißt bei mir nicht, arglistig, treulos, rebellisch, neuerungssüchtig, seines Berufes überdrüssig. Ich nenne nur denjenigen klug, der sich in jedem Stande so verhält, dass ihm sein Leben kein Hindernis zur ewigen Glückseligkeit wird. In solchem Sinne nennt die Bibel das Wort Klugheit und wir können nicht irren, wenn wir aus ihr Weisheit schöpfen.“ (ebd. Einleitung, S. 3-4)
Mit dem letzten Argument rückt er oppositionelle Adelige in die Nähe der Gotteslästerung. Diese Argumente wirken auch 250 Jahre später nicht ungeschickt.
Ich komme zum nächsten Schritt, zum Werk: Wie geschickt ist nun Rochows Schulbuch selbst? Eigentlich sind es drei Bücher: 1772 „Versuch eines Schulbuches für Kinder der Landleute oder zum Gebrauch in Dorfschulen“; vier Jahre später dann der berühmte Kinderfreund. Teil I und Teil II weitere drei Jahre später. Im Vergleich der drei Bücher fällt auf: Das erste Buch hatte bei 162 Seiten eine 14-seitige Einleitung, die wohl eine „Eisbrecherfunktion“ hatte gegenüber Obrigkeit und Standesgleichen. Im zweiten und dritten Buch nämlich finden sich insgesamt nur zwei Seiten Einleitung bei insgesamt 274 Seiten Inhalt. Zudem befasst sich hier die Einleitung nicht mit Grundfragen, sondern ist eine Gebrauchsanweisung für das Buch. Rochow mahnt hier Hilfsmittel wie Vergrößerungsglas, Magnet und Globus an.
Auch im Aufbau unterscheiden sich die Bücher. Das erste Buch war für die Hand der Lehrkräfte gedacht; die damals keine einschlägige Ausbildung hatten. Das zweite Buch „der Kinderfreund“ mit beiden Teilen war ein reines Lesebuch für die Schulkinder. Es war „der Armen wegen wohlfeil. Denn es muss in jedes Schulkindes Händen sein“ (ebd.) und kostete daher nur 8 Kreuzer. Folglich stellen seine 186 Lesestücke eine kindgerechte Zergliederung der 16 Kapitel des ersten Buches dar. Im Rahmen meines Themas macht es Sinn, alle drei im Zusammenhang zu behandeln, denn sie dienten dem gleichen Ziel: Über Alphabetisierung die Vermittlung des Denkens in Ursache und Wirkung sowie nützlichen Wissens und staatstragender Haltungen zu erreichen und mittels dieser die Wohlfahrt des Staates über die Wohlfahrt des Einzelnen voranzubringen.
Der „Kinderfreund“ wurde – ich zitiere den Pädagogen Max Liedtke – „das mit Abstand verbreitetste und bedeutendste Lesebuch des ausgehenden 18. und beginnenden 19.Jh.“ (Liedtke 1989, S. 6) Die starke Ausrichtung des Buches auf das Bekämpfen vielfältiger Aspekte abergläubisch-vorurteilsvoller Weltsicht ist auffallend und legt den Schluss nahe, dass in diesem Bereich die Mängel am größten waren. An einigen konkreten Beispielen möchte ich Ihnen Rochows Themenspektrum und seine katechetische Vorgehensweise vor Augen führen.
Das Thema “Ursache und Wirkung“ (Rochow 1772, S. 8) handelt Rochow mit dem folgenden Beispiel ab: “Liebe Kinder! Wer auf Alles acht giebt, und aufmerksam ist, dem wird bald gewahr, dass oft ein Ding um des anderen Dinges willen geschieht. Zum Exempel Dass es Tag wird, wenn die Sonne aufgeht, dunkel wird, wenn die Sonne untergeht. Das heißt: Es gibt Ursachen und Wirkungen, oder Folgen …Sage mir, mein Sohn! Warum ist es warm, hier in der Schulstube? Nicht wahr? Darum weil es eingeheißt ist, oder die Sonne herein scheint. Also ist die Sonne oder der eingeheißte Ofen, die Ursache von dieser Wärme, und die Wärme ist die Wirkung des eingeheißten Ofens oder der Sonne…“ (ebd.) Die Folgen mangelnder Bereitschaft zum Denken in Ursache und Wirkung stellt er den Kindern dann drastisch vor Augen: „ In dem Ort, wo ich her bin, waren einmal viele Kinder krank. In dem Haus aber, wo ich wohnte, war ein einziges Kind, das wurde plötzlich sehr krank. Die Eltern schickten gleich nach dem Arzte. Der Arzt kam und brachte Arzeney mit, von derselben Art als er schon bei vielen Kranken mit Nutzen gebraucht hatte. Denn alle, die es zur rechten Zeit eingenommen hatten, waren besser geworden. Dieses kranke Kind aber wollte durchaus nicht die Arzeney einnehmen. Die Eltern fragten dieses Kind, ob es denn nicht wünsche wieder gesund zu werden? „Oh ja, liebe Eltern, ich wünsche recht bald gesund zu werden“. „Nun, so musst du auch die Arzeneymittel brauchen, und sie einnehmen, damit du gesund werden könntest“ sprachen die Eltern. Aber das Kind blieb seinem Eigensinn. Es wollte gern gesund werden, aber doch keine Arzeney, die die Krankheit vertreibt einnehmen. In wenigen Tagen musste das Kind sterben. Zuletzt nahm es gerne ein, aber, da war es zu spät, und die Krankheit hatte zu sehr zugenommen. - Hier war die, zur rechten Zeit einzunehmende Arzeney, die Ursache vom wieder gesund werden; und dies war die Wirkung von der eingenommenen Arzeney. Die Wirkung wollte das Kind, denn es wollte gerne wieder gesund werden, aber die Ursache wollte es nicht, nämlich die Arzeney zur rechten Zeit einnehmen. Und an diesem thörichten, närrischen Eigensinn musste es sterben. Also, Kinder! alles das, warum etwas da ist, oder geschieht, nennen wir Ursache, und was aus dieser Ursache da ist, oder geschieht, nennen wir Wirkung oder die Folge, weil es auf die Ursache folgt.“ (ebd.)
Aberglauben bekämpft Rochow an vielen Stellen des Buches, z.B. wie folgt: „Abergläubisch ist man, wenn man Wirkungen erwartet, zu denen die Ursachen fehlen. ….(ebd. S. 33) Liebe Kinder! Es gibt falsche Menschen in der Welt, die sich gewisser Künste rühmen, die sie sehr geheim halten. Bald wollen sie machen, dass das Fieber ausbleibt; bald dass der Dieb das Gestohlene selber wiederbringen muss; dass die Kühe keine Milch mehr geben; dass jemandem der ihnen was zu Leide getan hat, mit einem mal krumm und lahm wird, und wie die Possen alle heißen. Seht! Wer glaubt, dass er diese Künste kann; dass er durch bloße Worte und Zeichen, dieß ausrichten kann, der ist abergläubisch –
er erwartet eine Wirkung ohne Ursache. Denn das bloße Wort kann nicht die Ursache sein, woraus solche Wirkungen entstehen. Und Gott, als ein höchstgütiger Vater, hat die Menschen gewiß nicht der Gefahr aussetzen wollen, dass ein jeder böser und feindlich gesinnter Mensch, dem anderen, bloß durch ein paar Worte – Gottes edelste Gabe –die Gesundheit rauben, oder ihn um sein Vermögen, heimlich und ungestraft, bringen könnte…Wenn ihr also, schlecht unterrichtete Leute, von Gespenstern , die des nachts die Leute erschrecken, von Kobolden und Hexen, die, auf den Besen, durch die Luft reiten; von Kirchhöfen, dass die Todten des nachts darauf sich sehen lassen, und allen solchen abergläubischen Dingen, hört erzählen: So seid nicht leichtgläubig, euch davor zu fürchten (wenn auch die Leute sogar sagten: Sie hätten es mit ihren Augen gesehen). Denn entweder ihre Augen sahen vor Furcht damals unrichtig, oder sie sagen mit Vorsatz Unwahrheit.“ (ebd. S. 33-35)
Neben dem penetranten Trainieren des schlussfolgernden Denkens anhand anschaulicher Beispiele aus dem Erfahrungsbereich der Kinder, stehen zahlreiche Beispiele, die das praktische Handeln verbessern sollen. Weitere Beispiele liefern neue Zusammenhänge und Fakten zu alltäglichen Sachverhalten. Astronomie, Geographie und Biologie werden ebenfalls in solchen Ausschnitten gestreift, die zum Alltag der Kinder Bezug haben, oder ihre natürliche Neugier und Phantasie anregen. „Der Mond ist an und für sich, dunkel, wird aber von der Sonne beschienen und da dieses, wegen seiner verschiedenen Stellung gegen die Sonne, und die Erde nicht immer gleich ist, so hat er auch bald mehr, bald weniger Licht. Nach dem Monde werden die Wochen berechnet.“(ebd. S. 110-111) Und zur Geographie sagt er u. a. “Ihr werdet erstaunen, wenn ich euch sage, dass es Leute gibt, die uns die Füße zukehren. Hier ist die Abbildung der Erdkugel: Stellt euch vor dass hier eine Fliege kröche und da unten auch eine, so werdet ihr einigermaßen begreifen.“ (ebd., S. 114-115)
Rochow wendet sich ausführlich, konkret und mit vielen Einzelheiten dem Thema Landwirtschaft zu. Zur richtigen Wahl der Getreideart sagt er: „Rocken ist nicht völlig so teuer im Verkauf, als Weizen, aber doch weit nützlicher, weil erstlich aus ihm, wenn er zu Mehl gemahlen ist, unsere hauptsächlichste und unentbehrlichste Nahrung, das Brodt, gebacken wird, da wir doch Semmeln und Kuchen entbehren können; ferner der Rocken auf allerlei Erdboden gemeiniglich wächst, also nicht so gut Land nötig hat, als der Weizen…“ (ebd. 129-130). Auch der pflegliche Umgang mit den Gerätschaften wird drastisch und anschaulich angesprochen: Selbst Ratschläge für die richtige Wahl des Ehepartners leitet Rochow aus den Ansprüchen eines leistungsfähigen bäuerlichen Haushaltes ab: „Denn Kinder, wenn ihr sehet wie nöthig eure Mütter im Hause sind, so werdet ihr leicht begreifen, dass eine Landwirtschaft ohne Hausmutter nicht lange gut geht. Auf eine gute Wirthin kommt vieles an. Euer Wohl und Weh hängt von dieser Wahl ab. Bittet daher Gott um Weisheit zu dieser Wahl; und wenn ihr größer werdet, so sehet nicht zuerst nach Reichthum und Ansehen, sondern nach gottesfürchtigen und arbeitsamen Personen. Denn durch eine fleißige und ordentliche Wirthin wird der Mann reich.“ (ebd. 150-151)
Dieser Einblick in Themen und Methoden Rochows sagt noch nichts über die Wirkungen. Ich komme daher zum nächsten Schritt, den Wirkungen.
Bereits zu Rochows Lebzeiten waren in 10 Jahren über 1000 Besucher aus nah und fern in der Schule zu Reckahn (Bennack 1988, S. 25). Und der Minister von Zedlitz schrieb anerkennend: „Wo die bekannten Schulen (Rochows; ergänzt U.K.) sind, .. wird der Ackerbau fleißig und mit gutem Erfolg betrieben, der Justiziarius hat dort keine Streitigkeiten zu schlichten, keine Verbrechen zu untersuchen...“ (Blättner 1966, S. 67) Durch die akribische Arbeit von Michael Freyer sind wir über die Wirkungsgeschichte des Buches besser informiert, als über Schul- und Lesebücher aus späterer Zeit. Er schreibt zusammenfassend: „Rochows Kinderfreund wurde in mindestens 37 Auflagen, 49 Nachdrucken, 25 Bearbeitungen und 16 Übersetzungen in französischer, niederländischer, dänischer und polnischer Sprache gedruckt; hinzuzurechnen ist noch eine kaum mehr erfassbare große Zahl von Nachahmungen. Seit den 90er Jahren des 18.Jh. waren … solche Ausgaben nahezu gleichmäßig über protestantische und katholische Gebiete Deutschlands verteilt.“ (1989, S. 23)
Halten wir fest: Die Zahl der illegalen Raubdrucke ist kaum ermittelbar. Legal nachzuweisen sind insgesamt 127 Varianten aus Übersetzungen, Nachdrucken etc. Rochows Buch wirkte aber nicht nur in ungewöhnlich großer räumlicher Verbreitung. Auch zeitlich ist die Verbreitung beachtlich: Der „Kinderfreund“ hat fast 100 Jahre Wirkung entfaltet:1776 erstmals erschienen, wurde das Buch erst ab 1871 aus den Volksschulen verdrängt. Die Gründung des Deutschen Kaiserreichs durch Bismarck hat im Volksschulbereich Neuerungen und Erweiterungen angestoßen. Hier konnte Rochows Buch nicht mehr alle Ansprüche befriedigen. Die meisten Ausgaben erschienen zwischen 1800 und 1810. Freyer schätzt die Gesamtauflage auf die für damalige Verhältnisse sehr große Zahl von einer Million (Freyer 1989, S. 95). Die Verbreitung hat wohl auch sehr gefördert, dass bereits 1763 der König, Friedrich II., in seinem „General-Landschul-Reglement“ bessere Schulen gefordert hatte, um „ … geschicktere und bessere Untertanen bilden und erziehen zu können.“ (Dietrich &Klink 1964, S. 132)
Einige Schlussfolgerungen
Schwieriger, spekulativer , aber evtl. noch interessanter wird die Frage sein, ob es einen Zusammenhang zwischen epochalen Schulbüchern, Unterrichtsformen und –inhalten auf der einen Seite und dem Nationalcharakter eines Volkes auf der anderen Seite gibt. Rochow selbst war davon wohl überzeugt, wie seine Schrift „Vom Nationalcharakter durch Volksschulen.“ von 1779 zeigt. Die europäische Landbevölkerung vor 250 Jahren mag wegen des Ausmaßes an Analphabetismus, Armut und Fatalismus, ihrer Befangenheit in Aberglauben und Magie eher manchen abgelegenen Regionen der sog.“Dritten Welt“ heute ähnlicher sein als unserer Landbevölkerung vor 100 Jahren.
Wenn dies so wäre, könnten jene Wesenszüge, die wir seit langer Zeit als charakteristisch für eine Nation ansehen, aber nicht unbedingt zentral mit dem Schul- und Erziehungswesen in Zusammenhang bringen, viel jünger sein und mit dem Schulwesen in Zusammenhang stehen. Wenn also das, was wir etwas ungenau als ‚Nationalcharakter’ bezeichnen, in einem geringerem Maße festgelegt ist, als vielfach angenommen, sondern viel entscheidender von verinnerlichten und so reflexionsfrei tradierten Fähigkeiten, Wert- und Normvorstellungen mitgeformt wird, so hätte dies weit reichende Folgen.
Damit ist keineswegs eine neobehavioristische Vision beliebiger Formbarkeit des Individuums postuliert, sondern lediglich nach dem kulturbedingten Anteil am Nationalcharakter gefragt. Eine Schlussfolgerung ist, dass wir eine erhebliche Instabilität der kulturellen Verhältnisse unterstellen müssen. Denn: wenn Instabilität die Voraussetzung für Verbesserungen ist, kann Instabilität als Ursache für Verschlechterungen nicht verneint werden.
Hieraus wiederum ergäben sich dann zwingend zwei Konsequenzen:
1. dass der mögliche Zusammenhang von Volksschulen und Nationalcharakter auf eine Daueraufgabe in jeder Generation und überall hinweist;
2. dass jene preußischen Tugenden, die Rochow in den Schulkindern weckte und förderte, „exportierbar“ sind. Denn sie könnten jedes Gemeinwesen voranbringen, das zurückliegt. Wenn man Rochow Vorgehen abstrahiert, so handelt es sich um das Optimieren genau jener Bildungsfelder, die zu seiner Zeit bei der brandenburgische Landbevölkerung Defizite aufwiesen. Das Optimieren erfolgte durch induktives Vorgehen.
Diese Methodik ist auch heutzutage effizient und würde
- das Überstülpen fremder Bildungsinhalte, die lokal unsinnig sind, ausschließen; z.B. lautete vor längerer Zeit das Thema des französischen Zentralabiturs auch für die Polynesier in der ehem. Südsee- Kolonie: „Unsere Vorfahren, die Gallier“.
- die Bildungsfelder spezifisch für die jeweilige Kultur herausfinden.
Dies hat übrigens in den 20er und 30 Jahren des letzten Jh. der Gründer der modernen Türkei, Kemal Atatürk, erfolgreich in Anatolien praktiziert. Er hat tausende begeisterter junger Lehrkräfte in die Dörfer Anatoliens geschickt, die tagsüber die Kinder unterrichteten und in Abendkursen den analphabetischen Bauern und Bäuerinnen Lesen und Schreiben beibrachten und allen – ganz ähnlich Rochow – Inhalte vermittelten, die vom ländlichen Alltag handelten, vom Getreideanbau bis zur Körperhygiene. Leider haben seine Nachfolger diesen erfolgreichen Ansatz vernachlässigt. Heute lässt sich in der Entwicklungspolitik beobachten, dass gelegentlich Schulprojekte in der sog. Dritten Welt an der Nichtbeachtung dieser Rochowschen Grundsätze leiden. Hier siegte der Schreibtisch über die „Vor-Ort-Analyse“. Kurz: Rochows Vorgehensweise bei der Ermittlung der Defizite ist zeitlos richtig, nicht seine Inhalte, die sind zeit- und ortsgebunden.
So gesehen, gibt es viel zu tun. Packen wir es im Sinne Rochows an.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Quellen:
Bennack, Jürgen (Hrsg.) (1988): Schulbücher vom 18. bis 20. Jahrhundert für Elementar- und Volksschulen., Friedrich Eberhard von Rochow: Schulbücher Gesamtausgabe, Versuch eines Schulbuches für Kinder der Landleute oder zum Gebrauch in Dorfschulen 1772. Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen, Teil I und II, 2776/1779. Nachruck mit einer Einleitung von Jürgen Bennack.
Blättner, Fritz (1966): Geschichte der Pädagogik. (12.Auflage; durchgesehen und ergänzt von H.G. Herrlitz) Heidelberg.
Freyer, Michael (1989): Rochows „Kinderfreund“. Wirkungsgeschichte und Bibliographie. Bad Heilbrunn/Obb.
Krebs, Uwe (1995): Ein Kreuzzug gegen den Aberglauben: Rochows Schul- und Lesebücher 1772-1779. In: Liedtke, M.: Matreier Gespräche. “Aberglaube Magie Religion“. Graz. S.113-132.
Liedtke, Max (1989): Vorwort. In: Freyer, Michael: Rochows „Kinderfreund“. Wirkungs-geschichte und Bibliographie. Bad Heilbrunn/Obb.
Rochow, Friedrich Eberhard von (1772): Versuch eines Schulbuches für Kinder der Landleute oder zum Gebrauch in Dorfschulen. Berlin.
Rochow, Friedrich Eberhard von (1776/1779): Der Kinderfreund. Bd. I und II. Berlin.
Schmitt, Hanno & Tosch, Frank (Hg.) (2001): Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow im Aufbruch Preußens. Berlin.